24.03.2024, 14:30
Es war einmal ein großer Club…
Der THW Kiel muss in der heimischen Halle eine historische Niederlage hinnehmen - und das ausgerechnet gegen den Nord-Rivalen aus Flensburg. Die Partie zeichnet ein Bild, das den Verantwortlichen zu denken geben dürfte. Ist die große Zeit des THW vorbei? Ein Kommentar von Sebastian Mühlenhof.
Eigentlich wollte der THW Kiel mit einem Derby-Sieg nochmal oben angreifen. Mit einem Triumph über die SG Flensburg-Handewitt hätte der (noch) amtierende deutsche Meister die zwei Champions-League-Plätze weiter im Visier gehabt. Eigentlich.
Stattdessen stand am Ende eine deutliche 26:33-Heimniederlage. "Eine Lehrstunde" sei das gewesen, meinte Filip Jicha nach der Partie. Sieben Minuspunkte beträgt nun der Abstand auf die Füchse Berlin - sollte in Kiel vorher noch irgendwer an die Meisterschaft geglaubt haben, dürfte das spätestens jetzt vorbei sein.
Wie schon in der Saison 2018/2019 "droht" dem THW erneut die Teilnahme an der European League. Aber es geht hier um mehr als um Zahlen und Wettbewerbe. Der FC Bayern des Handballs steckt in einer tiefen Krise. Der einst so große THW ist nicht mehr, was er mal war.
Unmittelbar nach der EM-Pause hatte der THW schon gegen den SC Magdeburg mit sieben Toren Differenz verloren. Ebenfalls zuhause. Ebenfalls eine Demütigung. Es war die zweite Saisonpleite gegen den SCM. So wie jetzt gegen Flensburg. Zuletzt hatte der THW 2015/2016 beide Bundesliga-Spiele gegen die SG verloren.
Die altehrwürdige Ostseehalle war einst eine uneinnehmbare Festung. Wer Punkte aus Kiel entführen konnte, durfte danach Weihnachten und Ostern gleichzeitig feiern. Das war einmal. In der Champions League hatte der THW zuhause sogar mit neuen Toren gegen Aalborg verloren, im Pokal gab es zu Hause das Aus gegen Wetzlar.
Und in der Bundesliga droht bei noch vier ausstehenden Duellen dem THW die schlechteste Heim-Saison seit 1978/1979. Damals kassierte der Klub in der eigenen Halle vier Bundesliga-Niederlagen, zurzeit steht er bei drei.
Wer Gründe für den Absturz sucht, blickt automatisch auf den Kader. Der THW hat nach dem Abgang von Niklas Landin eine große Lücke im Tor. Nachfolger Vincent Gerard konnte verletzungsbedingt keine Partie absolvieren, bevor er im Januar das Team wieder verließ.
Tomas Mrkva ist zu schwankend in seiner Leistung, während Samir Bellahcene nach seinem herausragenden Start im THW-Jersey im Formtief ist. Der Bedarf wächst somit, Gonzalo Perez de Vargas schon in diesem Sommer vom FC Barcelona loszueisen. Er verkörpert die Weltklasse, die dem Team derzeit im Tor fehlt.
Spieler wie Domagoj Duvnjak, Steffen Weinhold, Niclas Ekberg oder Patrick Wiencek sind im Spätherbst ihrer Karriere, während Top-Talente wie Elias Ellefsen á Skipagøtu oder Eric Johansson vielleicht irgendwann mal Weltklasse sind, den Rekordmeister aber nicht alleine aus der schweren Krise führen können. Dazwischen fehlt ein gesunder Mittelbau.
Dafür ist in erster Linie Viktor Szilagyi verantwortlich, gerade die Abgänge von Niklas Landin und Sander Sagosen konnte der Geschäftsführer bislang noch nicht auffangen. Hoffnungen ruhen unterdessen mit Blick auf die neue Saison unter anderem auf den bereits als Neuzustand feststehenden Emil Madsen.
Aber ist er nun Schuld an allem? Dass ein Klub wie der THW Kiel nach solchen Demütigungen zur Tagesordnung übergehen kann, ist undenkbar. Es gehört zur Systematik des Geschäfts, dass der Blick nicht nur auf Szilagyi, sondern auch auf den Trainer gerichtet wird.
Eines vorweg: Filip Jicha hat seit seiner Amtsübernahme im Sommer 2019 viel erreicht. In seiner Vita stehen drei Meistertitel und je ein Sieg im DHB-Pokal und der Champions League. Doch als Chefcoach steht er mehr als jeder andere in der Verantwortung.
Gerade die Top-Spiele zeigen immer wieder, dass er nur auf einen kleinen Kreis an Spielern vertraut. Das beste Beispiel dafür ist Karl Wallinius. Mit viel Lob gekommen, ist er in seiner zweiten Saison der große Verlierer. Er kommt in den wichtigen Partien nur sporadisch zum Einsatz. Mit 5:48 Einsatzminuten gegen Flensburg hatte er die wenigsten aller eingesetzten Spieler, in beiden Partien gegen Magdeburg saß er nur auf der Bank.
Zudem fehlt dem Team die Konstanz. Eine bislang starke Saison in der Champions League zeigt, dass es der THW eigentlich kann. Aber nicht nur Jicha wird sich nun die Frage gefallen lassen müssen, warum es trotzdem immer wieder zu solchen Einbrüchen in der Liga kommt.
In einer der Auszeiten gegen Flensburg appellierte der Tscheche an die Ehre seiner Spieler. Wahnsinn, dürfte sich der ein oder andere Ex-Kieler gedacht haben, dass ein THW-Profi im wichtigsten Derby der Vereinsgeschichte wirklich an seine Ehre erinnert werden muss.
Zwar dürfte Filip Jicha weiter , der 2022 für vier Jahre bis 2026 verlängerte, nicht zur Diskussion stehen, die Partie hat aber auch gezeigt: Ein "Weiter so" kann es in Kiel nicht geben. Sonst wird der THW angesichts der starken Konkurrenz immer häufiger nur in der europäischen Zweitklassigkeit spielen - zu wenig für die Ansprüche des FC Bayern des Handballs.
Sebastian Mühlenhof